Geschichten aus Hogwarts – Künstlerpech

Als großer Fan der Harry Potter-Reihe habe ich es mir nicht nehmen lassen, eine eigene kleine Kurzgeschichte in diesem Universum zu schreiben. In dieser Geschichte geht es um Neville Longbottom, der beim Durchstreifen des Schlosses auf ein ungewöhnliches Duo trifft. Viel Spaß beim Lesen.


»Nun, worauf wartet ihr noch«, blaffte Madam Hooch und deutete auf die Besen im Gras. »Jeder stellt sich neben einem Besen auf. Na los, Beeilung.«

Mit zitternden Beinen ging Neville Longbottom auf einen der Besen zu. Das war nichts im Vergleich zu den anderen Unterrichtsstunden. Mit ängstlichem Blick schaute er hinab auf die Reisigzweige und den kerbenübersähten Stiel. Er hatte noch nie zuvor einen Besen bestiegen und hatte das unangenehme Gefühl, dass das nicht gut enden würde. Er warf einen nervösen Blick auf die Slytherins. Draco Malfoy traf seinen Blick und grinste feist über das spitze Gesicht. Schnell blickte Neville in eine andere Richtung. Madame Hooch hatte sich vor ihnen aufgestellt.

»Streckt die rechte Hand über eurem Besen aus und sagt ‚Hoch!‘.«

Neville tat, wie geheißen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass einige Besen dem Befehl sofort gehorchten und in die Hände ihrer Besitzer sprangen. Andere rollten sich nur ein wenig auf dem Boden. Doch sein Besen lag noch immer regungslos da. »Ho … Hoch!«, stammelte er erneut, doch ohne Erfolg. Hecktisch blickte er nach links und sah Hermine Granger, die verlegen ihren Besen aufhob. Mit zitternden Händen tat er es ihr nach, während Madam Hooch durch die Reihen ging und ihnen zeigte, wie sie den Besenstiel korrekt hielten.

»Passt jetzt auf, Wenn ich pfeife, stoßt ihr euch vom Boden ab, und zwar mit aller Kraft«, sagte Madam Hooch, doch das verstand Neville kaum noch. Sein Herz pochte so laut, dass er meinte, jeder hätte es hören müssen. Er sollte sich abstoßen, hatte sie gesagt. Mit aller Kraft drückte sich Neville hoch. Der Wind schoss um seine Ohren und erschrocken stellte er fest, dass er tatsächlich abgehoben war. Doch schon im nächsten Moment verflog die Begeisterung, als er merkte, dass der Besen immer höher stiegt und das mit atemberaubender Geschwindigkeit. Nun begann er sich wild im Kreis zu drehen und in Todesangst krallte Neville seine Finger um den Stiel. Dann stoppte der Besen und einen Moment wiegte sich Neville in Sicherheit, bevor ihm der Stiel aus den Fingern glitt. Im nächsten Moment krachte er mit einem dumpfen Geräusch auf die Grasfläche. Ein hässliches Knacken und ein stechender Schmerz in seiner rechten Hand ließen ihm die Tränen in die Augen steigen. Eine große Gestalt beugte sich über ihn.

»Handgelenk gebrochen«, murmelte Madam Hoch und versuchte ihm an seinem gesunden Arm auf die Beine zu helfen. »Na komm, Junge, es ist schon gut, steh auf.«

Mühselig richtete Neville sich auf. Er hörte Madam Hooch noch etwas rufen, konnte sie aber nicht verstehen. Langsam gingen sie zurück zum Schloss. Mit ruhiger Stimme redete Madame Hooch auf ihn ein, doch Neville hörte ihr nicht zu. Er hatte es wieder vergeigt. Er wollte doch mutig sein, er wollte endlich in etwas gut sein. Als der sprechende Hut ihn nach Gryffindor geschickt hatte, war er so glücklich gewesen. Doch mittlerweile glaubte er, dass er vielleicht im falschen Haus gelandet sei.

Eine halbe Stunde später durfte Neville den Krankenflügel auch schon wieder verlassen. Madam Pomfrey hatte den Arm schnell geheilt und ihm einen Trank zur Beruhigung gegeben. Noch immer etwas angeschlagen trottete Neville die Korridore entlang. In fast jedem Fach hatte er bis jetzt versagt. Gut, Kräuterkunde ging einigermaßen, aber in Zauberkunst und Verwandlungen hatte er noch keinen einzigen Zauber zustande gebracht. Ständig verwechselte er die Monde und Planeten in Astronomie. Und dann war da noch Zaubertränke. Neville lief ein Schauer über den Rücken, als er an Professor Snape dachte. Wie konnte ein so gemeiner Mensch nur Lehrer werden?

Mit einem Mal blieb Neville stehen. Er war so sehr in seinen Gedanken vertieft, dass er nicht darauf geachtet hatte, wo er hinlief. Diesen Korridor kannte er nicht. Er ging ein paar Schritte zurück, doch auch hier wirkte nichts vertraut. Nervös stolperte er zu einem der Fenster. Er konnte die Ländereien sehen und er schätzte, dass er mindestens im vierten Stock sein musste. Doch er war im Westflügel. Dieser Ort musste ziemlich weit vom Krankenflügel entfernt sein. So lange war er doch nicht unterwegs gewesen? Oder doch? Sollte er hier warten, bis jemand vorbeikam, oder versuchen den Weg zurückzuverfolgen? Während er noch überlegte, vernahm er aus einem der angrenzenden Zimmer eine Stimme. Langsam trat er näher und legte ein Ohr an die Tür. Zwei Stimmen konnte er hören, eine dunkle und eine etwas hellere. Durch das dicke Holz konnte er nicht verstehen, was sie sagten. Doch vielleicht konnten sie ihm helfen. Er nahm all seinen Mut zusammen und öffnete die Tür.

Ihm bot sich ein erstaunlicher Anblick. Der Decke des Raumes reichte fast vier Meter hoch. Die gegenüberliegende Wand bildete eine Fensterfront, die fast bis zur Decke ging und einen atemberaubenden Ausblick auf die Ländereien bot. Die übrigen drei Wände waren bis zum letzten freien Fleck mit Gemälden behangen. Sie zeigten die schönsten Landschaften, die Neville je gesehen hatte. Weitläufige Wiesen, dichte Wälder und endlose Seen mit sandigen Ufern. Ein räuspern riss ihn aus seinem Staunen. Im Zentrum des Raumes stand eine Staffelei mit einer Leinwand. Etwas weiter rechts an einem runden Eichenholztisch saß eine fahle, durchscheinende Gestalt.

»Guten Tag, mein lieber«, begrüßte ihn der Geist mit einem Lächeln, »was führt dich denn hierher?«

Etwas verdutzt blickte Neville den Geist an. Er hatte angenommen, bereits alle Geister beim Fest zum Schuljahresbeginn gesehen zu haben, doch dieses schmale Gesicht war ihm völlig unbekannt. Der Geist hatte nur schütteres Haar, doch einen beeindruckenden Schnurrbart mit fein säuberlich gezwirbelten Spitzen. Seine Augen wirkten forschend, aber keinesfalls bedrohlich.

»Entschuldigen Sie, Sir«, begann Neville und trat einen Schritt in den Raum hinein. »Ich wollte Sie nicht stören.«

»Ach, papperlapapp«, sagte der Geist und wies auf einen freien Stuhl. »Ich bekomme nicht oft Besuch hier. Das ist eine willkommene Abwechslung. Ich würde dir ja einen Tee anbieten, aber…« Er hob die durchscheinenden Hände.

Neville setzte sich und ließ den Blick erneut über die Vielzahl der Gemälde wandern. »Wo sind wir hier?«, fragte er neugierig.

»Dies hier ist mein Arbeitszimmer«, antwortete der Geist. »Zumindest war es das einst.«

Neville sah ihn erstaunt an.

»Haben Sie diese Bilder gemalt?«

»Hör auf so dumme Fragen zu stellen, Bursche!« Neville wirbelte herum. Wer hatte das gesagt? Sie beide waren doch alleine in dem Raum. Oder etwa nicht? Sein Blick fiel auf ein Portrait, welches unauffällig zwischen einer Berglandschaft und einem dichten Wald aufgehangen wurde. Es zeigte einen dunkelhaarigen Mann mit einem spitzen Kinnbart. Er trug eine dunkelgrüne Robe mit silbernen Akzenten und blickte Neville aus strengen Augen an.

»Natürlich hat er die Bilder gemalt. Herrgott, sind alle Schüler mittlerweile solche Nervensägen?«, fuhr der Mann auf dem Portrait fort, während er seine Fingernägel inspizierte. Neville fiel auf, dass das Portrait unfertig wirkte. In der unteren rechten Ecke sah er nur die weiße Leinwand, ganz so, als ob der Künstler sein Werk nicht vollendet hatte.

»Rede nicht so über unseren Gast«, antwortete der Geist ruhig. Nevilles Blick fiel auf ein weiteres Bild. Es zeigte einen See und einen alten Baum. Im Hintergrund konnte man die Silhouette eines großen Gebäudes erahnen. Es wirkte so realistisch und kam ihm sehr vertraut vor. »Das ist doch der See auf den Ländereien, oder?«

»Oh, der Busche hat Augen im Kopf«, schnatterte das Portrait, während der Geist nickte.

»Das ist wirklich sehr beeindruckend«, sagte Neville. Ihm fiel auf, dass er sich noch gar nicht vorgestellt hatte. »Ich bin Neville Longbottom«, stammelte er und streckte dem Geist die Hand hin, bereute dies jedoch, als der Geist versuchte sie zu schütteln. Es war, als hätte er seine Hand in Eiswasser getaucht.

»Edgar Barrymore«, stellte sich der Geist vor, »meines Zeichens Künstler. Aber nun sag doch mal, was verschlägt dich hierher?«

»Ich habe mich verlaufen«, sagte Neville etwas beschämt. Das Portrait schnalzte verächtlich mit der Zunge, doch Mr Barrymore schien das zu überhören.

»Ja, in diesem Schloss findet man sich nicht so leicht zurecht. Ich weiß noch, als ich das erste Mal durch diese Gänge geirrt bin. Fast immer bin ich zu spät zum Unterricht erschienen.«

»Sie waren auch in Hogwarts?«, fragte Neville.

»Ja, aber das ist schon eine Weile her. Mittlerweile über 100 Jahre, schätze ich«, antwortete Mr Barrymore und sah fragend zu dem Mann im Portrait hinüber, der nun etwas überrascht schien, dass seine Meinung gefragt war.

»Wahrscheinlich noch etwas länger«, sagte er und blickte erneut auf Neville hinab. »In welchem Haus bist du, Bursche?«

»Gryffindor«, stammelte Neville. Das Portrait war ihm unheimlich. Er konnte den Mann nicht ausstehen.

»Oh nein«, sagte das Portrait und verdrehte die Augen. »Einer von diesen eingebildeten Möchtegern-Abenteurern. Hast wohl das Schloss erkundet und nun stehst du hilflos dar. Geschieht dir recht.«

»Nein, ich war im Krankenflügel und…«, begann Neville, doch Mr Barrymore unterbrach ihn.

»Mach dir nicht die Mühe«, sagte er und warf dem Portrait einen strengen Blick zu, »der Alte hält nicht allzu viel vom Haus Gryffindor.«

»Wen nennst du hier alt, du talentloser Fatzke«, fauchte das Portrait. »Wenn ich irgendwann hier herauskomme, kannst du deine Teestunden alleine verbringen.«

Interessiert beobachtete Neville wie der Mann versuchte sich von der Stelle zu bewegen. Doch es schien, als stecke er in dem unvollendeten Teil des Portraits fest. »Können Sie ihr Bild nicht verlassen?«

»Noch so eine schlaue Frage. Wonach sieht es denn aus?«

»Du musst ihn entschuldigen«, sagte Mr Barrymore. »Nach hundert Jahren gefangen in einem Rahmen kann man schon etwas grantig werden.«

Eine Weile schwieg Neville und ließ den Blick erneut durchs Zimmer wandern.

»Darf ich fragen, wieso sie hier sind? Also, ich meine in diesem Raum?«

Mr Barrymore erhob sich und schwebte langsam zu der Staffelei hinüber. Erst jetzt sah Neville, dass die Leinwand bemalt war. Das Bild war noch nicht fertig doch er erkannte die Landschaft. Es zeigte die Ländereien des Schlosses, so wie man sie durch die hohe Fensterfront betrachten konnte. Obwohl das Bild bei weitem noch nicht vollendet war, wirkte es bereits so lebensecht.

»Dieses Bild sollte mein Meisterwerk werden«, sagte Mr Barrymore in ruhigem Ton und seine fahle Hand strich über die alte Farbe. »Doch ich konnte es nie vollenden. Viele der Bilder hier im Schloss habe ich gemalt, musst du wissen. Professor Mole, die damalige Schuldirektorin, hatte mich gebeten die Ausstattung des Schlosses um einige Landschaftsbilder zu erweitern.«

»Verschwendetes Geld, wenn du mich fragst«, sagte der Mann auf dem Portrait. Er hatte es offenbar aufgegeben, seinen Rahmen zu verlassen und beobachtete Neville und Mr Barrymore nun mit verschränkten Armen.

»Aber meine Arbeit gefiel ihr«, fuhr Mr Barrymore fort. »Dieses Bild hier habe ich für die Eingangshalle entworfen.« Er deutete auf die Staffelei. »Doch bevor ich es fertigstellen konnte, verstarb Professor Mole und die Schule stand unter neuer Leitung.« Er machte eine kurze Pause bevor er fortfuhr. »Warst du schon einmal im Büro des Schulleiters?«

Verdutzt schüttelte Neville den Kopf. Jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er gar nicht wusste, wo Professor Dumbledores Büro eigentlich zu finden war.

»Du musst wissen, dass in diesem Büro die Portraits aller Schulleiterinnen und Schulleiter hängen. Der neue Direktor hat mich beauftragt ihn zu portraitieren. Allerdings bin ich Landschaftsmaler. Mit Portraits hatte ich bis dahin kaum Erfahrung. Ich habe dennoch zugesagt, da ich befürchtete, dass er mir auch den Lohn für die anderen Bilder streichen würde.«

»Der Mann hat dein Talent erkannt«, warf das Portrait ein. »Du hast es vergeigt, doch das lag nicht an deinen Fähigkeiten.«

»Das mag sein«, fuhr Mr Barrymore fort, den Blick immer noch auf die Staffelei gerichtet. »Jedenfalls gefiel ihm meine Arbeit nicht sonderlich. Er hetzte mir den Hausmeister auf den Hals, ein grobschlächtiger Geselle, der keinen Spaß verstand.«

Neville dachte an Argus Filch, den aktuellen Hausmeister. Immer wieder sprach dieser über die guten alten Zeiten, in denen Schüler noch zur Bestrafung in Ketten gelegt wurden. Er war heilfroh, dass er nicht in dieser guten alten Zeit lebte und konnte den Anflug von Furcht in Mr Barrymores Stimme gut nachvollziehen.

»Ich wollte mich verstecken«, fuhr der Geist fort. »Ich fand einen großen, wundersamen Raum in dem ein großes Durcheinander herrschte. Allerlei seltsame Dinge stapelten sich dort. Es war ein erstaunlicher Anblick.«

»Komm zum Punkt, bevor der Junge noch einschläft«, warf das Portrait ein.

»Ich fand einen großen Schrank. Dort habe ich mich versteckt. Doch es war kein gewöhnlicher Schrank. Ich hatte das Gefühl, als würde ich fallen, und doch festen Boden unter den Füßen haben. Ich tastete umher um den Schrank wieder zu öffnen, konnte die Tür aber nicht finden. Dann hörte ich dumpfe Stimmen, konnte aber nicht verstehen, was sie sagen.«

Gespannt lauschte Neville der Geschichte, doch das Portrait schien eher gelangweilt. Schließlich schnitt er dem Geist das Wort ab.

»Kurzum, du kamst nie wieder heraus und bist irgendwann gestorben«, sagte er und streckte sich genüsslich. »Du solltest dir endlich mal eine andere Geschichte überlegen. Diese wird allmählich langweilig.«

Mr Barrymore warf ihm einen zornigen Blick zu und fuhr fort.

»Ich kam schließlich zurück, so wie du mich jetzt siehst«, sagte er und drehte sich zu Neville um. »Ich hatte mein Meisterwerk noch nicht vollendet. Doch wahrscheinlich wird es auch nie dazu kommen.«

»Warum denn nicht?«, fragte Neville.

»Zum Malen verwende ich einen ganz speziellen Pinsel, ein Familienerbstück welches selbst einige Kräfte besitzt. Auf meiner Flucht habe ich ihn versteckt, damit er mir nicht weggenommen würde. Ohne diesen Pinsel kann ich mein Bild nicht vollenden.«

»Und warum holst du ihn dir nicht einfach?«

Mr Barrymore blickte beschämt zu Boden.

»Der Dummkopf hat vergessen, wo er den Pinsel versteckt hat«, sagte das Portrait mit einem feisten Grinsen. »Kannst du dir das vorstellen?«

Neville schwieg. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie es war, etwas zu vergessen. Mit tröstendem Blick wandte er sich wieder dem Geist zu.

»Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?«, fragte er. Er war überrascht, wie ruhig und fest seine Stimme in diesem Moment klang.

Mr Barrymore schüttelte den Kopf.

»Nein, nein«, stammelte er und begann im Zimmer auf und ab zu schweben. »Seit Jahrhunderten versuche ich mich daran zu erinnern. Immer wieder habe ich das Schloss durchstreift, jeden Winkel durchsucht, doch nichts gefunden.«

»Erinnern sie sich an gar nichts?«, fragte Neville.

»Naja, immer wenn ich versuche meine Gedanken zu ordnen kommt mir eine Pflanze in den Sinn. Grüner Stängel und lila Blüten in einer helmartigen Form.«

»Das ist Wolfswurz«, sagte Neville sofort, selbst etwas überrascht, dass ihm dieser Gedanke so schnell kam. »Wird auch Eisenhut genannt, wegen der Form. Eine ziemlich giftige Pflanze. Haben Sie den Pinsel zwischen diesen Blumen versteckt?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Mr Barrymore verzweifelt und raufte sich die Haare. Er ließ die Hände sinken und starrte noch einen Moment auf sein unvollendetes Werk, bevor er sich wieder Neville zuwandte.

»Es tut mir leid, dass ich dir meine Geschichte erzählt habe«, sagte er und legte eine Hand auf Nevilles Schulter. Ein eisiger Schauer lief ihm den Rücken hinunter. »Das ist nichts, womit du dich belasten solltest.«

»Endlich ein paar weise Worte«, warf das Portrait ein. »Sag mal, Bursche, müsstest du nicht eigentlich im Unterricht sein?«

Erschrocken blickte Neville auf seine Armbanduhr. Der Unterricht war zwar vorbei, aber er sollte zusehen, dass er zurück in den Gemeinschaftsraum kam. Sonst würde er noch Ärger bekommen.

»Ich kann dir leider nicht sagen, wo du hinmusst«, warf Mr Barrymore ein. »Ich selbst war ein Hufflepuf und habe nie herausgefunden, wo der Gemeinschaftsraum der Gryffindors liegt.«

»Ich muss in den siebten Stock«, sagte Neville. Hoffentlich würde er den Weg von dort finden.

»Da kann ich dich hinbringen«, sagte der Geist und richtete sich auf.

»Komm bloß wieder, Edgar«, rief das Portrait ihnen nach. »Sonst komme ich noch um vor Langeweile.«

Schweigend folgte Neville dem Geist des Künstlers. Er führte ihn durch einige Korridore und über eine versteckte Treppe hinter einem Wandteppich. Schließlich erreichten sie den siebten Stock. Am Himmel zeigten sich bereits die ersten Sterne. Er verabschiedete sich von Mr Barrymore und lief in die Richtung, in der er das Portrait der fetten Dame vermutete. Hoffentlich fand er den Weg. Das war mehr als genug Abenteuer für einen Tag.

In der Nacht hatte Neville kaum ein Auge zugemacht. Nicht nur, dass er sich noch einmal verlaufen hatte. Als er endlich das Portrait der fetten Dame erreicht hatte, war diese nirgends zu finden. Zwar traf er kurz darauf auf einige Mitschüler, doch auf die darauffolgende Nachtwanderung, die unglücklicherweise im verbotenen Korridor im dritten Stock endete, hätte er gerne verzichtet. Noch immer schlotterten ihm die Knie, wenn er an dieses dreiköpfige Ungeheuer dachte.

Nach dem Frühstück ging er zu den Gewächshäusern. Madam Sprout, die Lehrerin für Kräuterkunde, erläuterte ihnen heute die magischen und beruhigenden Eigenschaften von Baldrian. Vielleicht, so überlegte Neville, sollte er selbst einige dieser Pflanzen anbauen. Etwas Beruhigendes in der Nähe zu haben, könnte nicht schaden. Als er nach dem Unterricht seine Sachen zusammenpackte, kam ihm eine Idee.

»Professor Sprout«, begann er und die kleine rundliche Hexe wandte sich ihm zu.

»Ja, Junge, was gibt’s?«

»Wissen Sie, ob hier auf dem Gelände Wolfswurz wächst?«

Professor Sprout sah ihn verdutzt an.

»Das ist eine sehr giftige Pflanze«, sagte sie mit misstrauischer Stimme. »Was hast du denn damit vor?«

Neville erzählte ihr von seinem Treffen mit Edgar Barrymore und seiner verblassten Erinnerung.

»Das klingt tatsächlich wie Akonitum«, murmelte Professor Sprout. »Nun, ich glaube, ich kann dir helfen. Wolfswurz wächst nur in der Wildnis. Hier im Gewächshaus haben wir es noch nicht heranzüchten können, daher haben wir einige dieser Pflanzen am Waldrand angesiedelt. Schau doch mal hinter Hagrids Hütte. Da solltest du welche finden. Tu mir aber bitte den Gefallen und behandle sie mit Vorsicht.«

Neville nickte, doch im nächsten Moment sackte ihm das Herz in die Hose. Er hatte sich noch nie sehr nah an den Wald getraut. Einer der älteren Schüler hatte behauptet dort gäbe es allerlei wilde und gefährliche Kreaturen. Auch seine Großmutter hatte ihm mehrfach eingebläut den Wald zu meiden. Aber solange er nahe an der Hütte des Wildhüters blieb, konnte ihm doch nichts passieren, oder?

Als er einige Zeit später vor der großen Holzhütte stand, war er sich nicht mehr so sicher. Er hatte Hagrid, den Wildhüter, bisher immer nur bei den Mahlzeiten gesehen. Am ersten Schultag hatte er sich sehr erschrocken, als dieser riesige Mann plötzlich vor ihm stand. Etwas nervös ging Neville auf die große Holztür zu. Er zögerte kurz, dann klopfte er. Schwere Schritte ließen das Holz erzittern. Neville trat ein paar Schritte zurück. Dann öffnete sich die Tür und das bärtige Gesicht des Wildhüters blickte ihn an. Der warme Ausdruck in seinen Augen gab Neville ein wohliges Gefühl. Er war sich nun sicher, dass von diesem Mann keine Gefahr ausging.

»Du bist doch der Junge der ständig seine Kröte verliert. Neville Longbottom, nich war?«, begrüßte ihn der Wildhüter mit rauer Stimme. Neville nickte. »Komm rein«, sagte Hagrid und bedeutete ihn mit einer Handbewegung einzutreten. »Wollt mir grade nen Tee machen. Möchtest du auch einen?«

»Ja, gerne«, sagte Neville und folgte dem Wildhüter hinein. Die Hütte bestand nur aus einem einzigen Raum. Doch alles hier war auf Hagrids Größe zugeschnitten. Neville setzte sich auf einen der riesigen Stühle und sah zu, wie der Wildhüter einen Kessel vom Feuer nahm.

»Nun erzähl mal«, sagte Hagrid, während er kochend heißes Wasser in riesige Becher goss. »Ich hab nich mit Besuch gerechnet. Gibt’s was, was ich für dich tun kann?«

Neville erzählte ihm von seinem sonderbaren Treffen am Vortag. Hagrid schien verblüfft.

»Ich hab den noch nicht kennengelernt, diesen Barrymore. Dachte eigentlich ich kenne die Geister alle. Naja, so kann man sich täuschen.«

Nachdem sie ihren Tee ausgetrunken hatten, führte Hagrid ihn zum Waldrand hinter seiner Hütte. Schon von weitem konnte Neville die farbenfrohen Blütenblätter erkennen. Vorsichtig, um keine der Pflanzen zu zertrampeln, ging er näher heran und begann den Boden zu untersuchen. Keine Spur von einem Pinsel. Was hatte er auch erwartet? Wieso sollte Mr Barrymore sein wertvolles Familienerbstück hier auf den Ländereien auf den Boden werfen? Neville warf ein Blick auf die nahestehenden Bäume. Vielleicht hatte der Künstler sein Werkzeug in einem Astloch versteckt. Er schaute sich die Bäume genauer an und fand auch ein paar Löcher. Bei den höheren Bäumen half Hagrid ihm, doch als schließlich die Pausenglocke läutete, waren sie immer noch nicht fündig geworden. Etwas enttäuscht verabschiedete Neville sich von Hagrid und machte sich auf den Weg ins Schloss.

Als Neville am Abend den Gemeinschaftsraum betrat, war er ein nervliches Wrack. Die heutige Doppelstunde Zaubertränke endete in einem Fiasko, als er es irgendwie geschafft hatte seinen Kessel explodieren zu lassen. Der ganze Inhalt wurde im ganzen Raum verteilt und Lavender Brown musste sogar in den Krankenflügel, da sie der heiße Zaubertrank im Gesicht getroffen hatte.

Erschöpft ließ er sich auf sein Bett sinken und begann nach seiner Zahnbürste zu suchen. Die meisten anderen Schüler nutzten bereits einen Zauber für saubere Zähne. Auch Nevilles Großmutter hatte ihm den Zauber beibringen wollen. Es hatte allerdings eine Weile gedauert, bis alle seine Zähne wieder nachgewachsen waren. Um nie wieder Skelewachs schlucken zu müssen, begnügte sich Neville daher mit Mugglemethoden. Er ging ins Bad und putze sich die Zähne. Gerade als er den letzten Rest Zahnpasta ausgespült hatte, fiel sein Blick auf ein Bild an der Wand hinter ihm. Das Bild zeigte die Hütte des Wildhüters. Ob Mr Barrymore auch dieses Bild gemalt hatte? Neville ging näher heran, um nach einer Signatur zu suchen und stutzte. Hinter der Hütte erkannte er klar und deutlich die lilafarbenen Blüten des Wolfswurzes. Begeisterung durchströmte ihn. Konnte es sein, dass Mr Barrymore sich an dieses Bild erinnerte? Vielleicht gab es ein Geheimfach im Rahmen. Vorsichtig tastete er die goldverzierte Einfassung ab, doch ohne Erfolg. Er nahm das Bild von der Wand, doch dahinter fand er nur festen Stein. Auch auf der Rückseite des Bildes war nichts zu finden. Vorsichtig hing er das Bild wieder an seinen Platz. Ja, das würde passen. Mr Barrymore hatte selbst gesagt, er wisse nicht wo der Gemeinschaftsraum der Gryffindors sei, also hat er hier auch sicher nicht gesucht. Vermutlich hatte das Bild zu seiner Zeit an anderer Stelle gehangen.

Neville ließ seinen Blick erneut über das Bild gleiten. Irgendetwas stimmte nicht. Er dachte zurück an die Pause, als er Hagrid besucht hatte und mit ihm gemeinsam die Kiefern und Fichten hinter der Hütte durchsucht hatte. Das war es! Hinter der Hütte des Wildhüters befanden sich nur Nadelbäume. Aber auf dem Bild hier steht eindeutig auch eine Eiche. Wie konnte es sein, dass Edgar Barrymore, der einen so großen Wert auf Details legt, hier einen Baum gemalt hat, der gar nicht existiert? Wurde er vielleicht gefällt? Aber warum steht hier eine einsame Eiche mitten unter den Nadelbäumen? Vorsichtig fuhr Neville mit dem Finger über die Leinwand und zuckte im nächsten Moment erschrocken zurück. Seine Hand war auf keinen Widerstand gestoßen. Dort, wo er auf die Leinwand hätte treffen sollen, glitt sein Finger durch den Stoff in das Bild hinein. Wie war das möglich? Konnte es vielleicht sein, dass…?

Neville nahm all seinen Mut zusammen und streckte die Hand erneut aus. Ohne den geringsten Widerstand glitt er durch die Oberfläche. Eine sanfte Brise streichelte seinen Arm, als ob er ihn durch ein Fenster strecken würde. Seine Hand war immer noch zu sehen, sie war immer noch da, jedoch schien sie ein Teil des Bildes zu sein. Er tastete sich weiter vor und griff nach der Eiche. Sie fühlte sich glatter an, als er erwartet hatte. Und außerdem deutlich kleiner, so als ob sie gerade einmal so groß war, wie auf dem Bild. Er umfasste den Stamm, der nur locker in der Erde steckte und zog seinen Arm wieder heraus. Die Eiche auf dem Bild war verschwunden. In seiner Hand hielt Neville einen alten, aber sorgsam gepflegten Pinsel.

Der nächste Tag war ein Samstag, doch Neville war schon früh auf den Beinen. Rasch zog er sich an und machte sich auf den Weg. Es dauerte eine Weile, aber schließlich fand er sich in dem Korridor wieder, in den er sich zwei Tage zuvor verirrt hatte. Er klopfte an die schwere Holztür und öffnete sie. Der Raum hatte sich nicht verändert. Sowohl die Staffelei, als auch der Tisch standen noch immer dort. Von Mr Barrymore jedoch fehlte jede Spur.

»Ah, da bist du ja«, sagte eine spöttische Stimme. Neville wandte sich dem halbfertigen Portrait zu. Der dunkelhaarige Mann blickte ihn vorwurfsvoll an. »Ich hoffe du bist zufrieden mit deinem Fund.«

»Woher wissen sie…«, begann Neville, doch das Portrait schnitt ihm das Wort ab.

»Edgar und ich hatten uns gestern Abend unterhalten. Plötzlich wird er ganz still. Ich frag ihn noch, was er habe und plötzlich ruft er laut ‚Er hat ihn gefunden‘. Im nächsten Moment fängt er an wie wild an seinem Gemälde zu arbeiten.«

Der Mann deutete auf die Staffelei. Neville ging um den Tisch herum, um die Leinwand genauer zu betrachten. Der Anblick war atemberaubend. Es zeigte die Ländereien in den letzten Stunden des Tages. Die Abendsonne spiegelte sich im See und tauchte das Land in einen goldenen Schein. Es wirkte unglaublich echt.

»Es ist fertig«, murmelte er. Mühsam wandte er den Blick ab und ging hinüber zu dem Portrait.

»Jaja, offenbar hat Edgar keine Probleme damit Bilder fertigzustellen. Nur bei mir hätte er sich etwas mehr Mühe geben können«, meckerte der Mann und deutete auf den immer noch unvollständigen Teil seines Bildes.

»Er hat Sie auch gemalt?«, fragte Neville verblüfft. »Aber ich dachte er malt nur Landschaften. Es sei denn…« Erschrocken wich Neville ein Stück zurück. »Es sei denn Sie sind dieser Schulleiter!«

»Oh, du hast es erfasst«, sagte der Mann mit einem feixenden Grinsen und verbeugte sich theatralisch. »Phineas Nigellus Black, der großartigste Schulleiter, den diese Schule je gesehen hat. Nicht das du das zu würdigen wüsstest, Bursche.«

»Ich dachte Sie beide wären Freunde«, stammelte Neville und deutete auf den leeren Stuhl, auf dem Mr Barrymore zwei Tage zuvor noch gesessen hatte. »Dabei haben Sie ihn bedroht?«

»Bursche, ich bin ein Bild und wir wissen beide, dass Bilder nicht unbedingt die Neigung haben, dazuzulernen. Doch nach über einhundert Jahren bin selbst ich bereit dem Jungen seine Fehler zu verzeihen. Mit seiner Arbeit war ich dennoch nie zufrieden. Und beendet hat er sie auch nicht. Nicht mal jetzt, bevor er gegangen ist.«

»Wo ist Mr Barrymore eigentlich?«, fragte Neville und sah sich erneut in dem Raum um.

»Ich weiß es nicht«, sagte Phineas Nigellus und Neville meinte eine Spur Bedauern in seiner Stimme zu hören. »Nachdem er sein Bild fertiggestellt hat, meinte er, er müsse jetzt gehen. Er sagte ich solle dir seinen Dank ausrichten, falls du kämest und dann ist er einfach verschwunden.«

Neville dachte über diese Neuigkeit nach. Mr Barrymore hatte seine Aufgabe erfüllt. Wo mochte er jetzt wohl stecken?

»Ich kann nicht sagen, dass ich die Ruhe nicht schätze«, fuhr Phineas Nigellus fort, »aber ich denke es wird auf Dauer vielleicht ein wenig eintönig.«

Neville wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Einerseits dachte er, dass dieser Mann es durchaus verdient hätte, weiterhin hier gefangen zu sein. Andererseits tat er ihm auch ein wenig leid.

»Oh, ich kenne diesen Gesichtsausdruck«, sagte Phineas Nigellus. »Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Ich brauche keine Hilfe, erst recht nicht von einem Gryffindor. Los, verschwinde!«

Neville zögerte einen Moment. Dann legte er den Pinsel auf den Tisch und verließ den Raum. Ein seltsamer Mann war dieser Phineas Nigellus. Während Neville noch in Gedanken den Korridor entlangschlenderte, hörte er leise Schritte näherkommen. Er blickte auf und sah eine große Gestalt mit langem silbernem Haar und Bart an einem der Fenster stehen und hinaus auf die Ländereien blicken.

»Guten Morgen, Neville«, sagte Professor Dumbledore und lächelte ihn an. »Vertrittst du dir ein wenig die Beine vor dem Frühstück.«

»Ja, Sir«, sagte Neville etwas zögerlich. Er hatte noch nie zuvor mit dem Direktor gesprochen.

»Nun denn, dann beeil dich mal, bevor der Speck noch kalt wird«, sagte Dumbledore und wandte sich von ihm ab. »Ich denke ich werde auch gleich hinuntergehen.«

»Professor Dumbledore, Sir, kennen Sie Phineas Nigellus Black?«

Dumbledore blieb stehen, schien über diese Frage allerdings weniger überrascht, als Neville erwartet hatte. Der Schulleiter lächelte kaum merklich.

»Nun persönlich kenne ich ihn nicht. Er war einer meiner Vorgänger an dieser Schule, doch ich weiß nicht allzu viel über ihn. Wie kommst du darauf?«, fragte Dumbledore.

Neville erzählte ihm von seinem Besensturz, von Mr Barrymore und Phineas Nigellus Portrait, wie er schließlich den Pinsel gefunden hatte und dass Mr Barrymore nun verschwunden war. Dumbledore hörte geduldig zu, bis er seine Geschichte beendet hatte.

»Ich habe mich schon gefragt, warum in meinem Büro kein Portrait von Professor Black zu finden war. Zugegeben, er war nicht der beliebteste Schulleiter, daher nahm ich an, es wurde einfach keines angefertigt.«

Dumbledore blickte wieder aus dem Fenster und fuhr fort.

»Ich denke wir sollten jemanden finden, der das Portrait vollendet und ihn dann zu seinem rechtmäßigen Platz bringen, meinst du nicht auch?«

»Ja, Sir«, sagte Neville erleichtert. Einige Sekunden herrschte Stille. Neville überlegte, wie er seine nächste Frage stellen sollte.

»Wissen Sie, wo Mr Barrymore jetzt ist, Sir?«

Dumbledore schien ein wenig über diese Frage nachzudenken. Schließlich wandte er sich wieder Neville zu.

»So genau können wir das wohl nicht sagen, aber ich denke, er wird seinen Frieden gefunden haben«, sagte Dumbledore. »Nun aber los jetzt, sonst ist das Frühstück gleich vorbei.« Neville dachte noch lange über dieses Gespräch nach. Wo immer Mr Barrymore jetzt auch war, er hatte seine Aufgabe erfüllt und er, Neville, hatte ihm dabei geholfen. Ein Hochgefühl wie nie zuvor durchströmte ihn, während er hinab in die Große Halle schlenderte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert